Ein Baum für Laura
 (Kurzgeschichte)

Ein Baum für Laura

 

Ich wache heute Morgen von selbst auf. Mein letzter Arbeitstag vor Weihnachten. Ich steige aus dem Bett, strecke mich, schiebe die Gardinen beiseite und öffne das Fenster. Die kalte Winterluft strömt herein und nimmt das kleine Schlafzimmer in Besitz. Ich atme die frische Luft tief ein und drehe mich beschwingt um die eigene Achse. Ein Kribbeln in meinem Bauch. Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich in Luca verliebt bin. Zugegeben frisch verliebt kann man nicht mehr sagen, wir sind schon ein paar Monate zusammen. Und Luca wohnt inzwischen quasi bei mir. Aber es fühlt sich an, wie am ersten Tag!

 

Manchmal denke ich insgeheim ans Zusammenziehen. Viel Aufwand wäre es mit Sicherheit nicht. Ich muss mittlerweile zweimal die Woche die Wäsche machen, da viele seiner Sachen in meinem Wäschekorb landen.  

Unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest! Natürlich sind wir an Heiligabend und dem ersten Weihnachtstag jeder bei seiner eigenen Familie. Soweit sind wir noch nicht. Aber den zweiten Weihnachtstag wollen wir zusammen feiern. Und dafür werde ich heute einen Weihnachtsbaum besorgen. Normalerweise kaufe ich für mich keinen Tannenbaum, da meine Eltern und Großeltern immer einen aufstellen. Mein Wohnzimmer ist zu klein und wozu sollte ich mir die Mühe machen? Außerdem verbringe ich den zweiten Weihnachtstag schon seit Jahren bei meiner Freundin Michelle. Sie nennt es Antiweihnachtsfest; es gibt immer viel Glühwein und manchmal Eierlikör. Ich habe Luca zwar vorgeschlagen, den Abend dort zu feiern, aber er wollte nicht unter Leute gehen und viel lieber die Zeit mit mir alleine verbringen.  

 

Ich mache mir einen Kakao und ziehe einen Glückskeks aus dem großen, bunt bemalten Glas, das auf dem Regal steht. Das war Michelles Idee. Statt eines Adventskalenders hat sie mir eine Vase voller Glückskekse geschenkt, beschriftet mit Zahlen. Ich rolle den Zettel auf und lese den Spruch: Befreie Dich von überflüssigem Ballast. Das passt ja gut! Heute will ich meine Wohnung gründlich aufräumen und ein paar Sachen ausmisten, bevor ich den Baum aufstelle und mit den neuen Design-Weihnachtskugeln und Ketten schmücke, in die ich bereits einen Teil meines Weihnachtsgeldes investiert habe. 

Noch schöner wäre es natürlich, ihn zusammen mit Luca zu schmücken. Aber seine Tante und Cousine reisen heute an und er hat seiner Mutter versprochen, den beiden die Stadt zu zeigen.

 

Als ich am Nachmittag meinen Outlook-Ordner schließe und das Büro verlasse, bin ich voller Vorfreude. Es ist gerade mal sechzehn Uhr. Alles fügt sich wunderbar zusammen. Google-Maps leitet mich zuverlässig zum nächsten Weihnachtsbaum-Verkaufsstand. 

Die Verkaufsfläche sieht wie ein kleiner Wald aus. Überall stehen Weihnachtsbäume in verschiedenen Größen. Ich sauge den Duft der Tannennadeln ein und bin für einen Moment wie verzaubert. Ziellos schlendere ich zunächst zwischen den Bäumen umher. Als ich vor einem stehenbleibe, um an seinem Zweig zu riechen, sehe ich plötzlich Luca am anderen Ende des Verkaufsplatzes. Er steht mit dem Rücken zu mir. Ich erkenne ihn an seinem schicken, grauen Mantel. Bei ihm eine hübsche langbeinige Brünette. Bestimmt seine Cousine. Was für ein Zufall? Ich steuere in ihre Richtung, bleibe aber abrupt stehen, als ich sehe, wie die langbeinige Brünette Luca ganz sanft an seiner Schulter berührt, zu ihm aufschaut, und ihn küsst. Ich kann nicht glauben, was ich da sehe! Instinktiv ducke ich mich hinter dem nächsten Baum. Etwas in meinem Magen krampft sich zusammen. Was hat das zu bedeuten? 

„Kann ich Ihnen helfen?“ Ein junger Verkäufer steht neben mir. Erschrocken richte ich mich auf. Gezwungen mein Versteck aufzugeben, bin ich aber nicht imstande etwas zu sagen. Er fasst das als Feilschen auf. „Kann sein, dass er nicht ganz gerade ist“, sagt er, „Aber so ist es in der Natur.“ „Ok“, das ist das Einzige, was ich aus mir herauspressen kann. „Wir können Ihnen einen Preisnachlass anbieten“, versucht er erneut, mich zu überzeugen. Ich betrachte kurz die Tanne. Ihr grünes Gewand ist dicht und verbirgt gekonnt den krummen Stamm. Ich halte mich trotz der spitzen Nadel immer noch an ihm fest und spähe in die Richtung, wo ich gerade noch Luca und seine „Cousine“ gesehen habe. 

 

Sie sind immer noch da. Sie trägt einen eleganten schwarzen Mantel und einen Burberry-Schal. Das trifft mich wie ein Schlag. Vor ein paar Wochen zeigte mir Luca wie zufällig ein Foto dieses Schals im Internet und fragte, was ich davon halten würde. Ich schmunzelte in mich hinein und spielte die Ahnungslose: „Sieht gemütlich aus.“ Insgeheim freute ich mich natürlich riesig auf den Schal.

 

 

Plötzlich dreht sich Luca zu mir um. Er verzieht keine Miene und hebt nur die Hand zur Begrüßung. „Na gut“, höre ich wieder die Stimme des Verkäufers, „25 Prozent, aber mehr kann ich nicht runtergehen.“ Er hat ein Holzfällerhemd an, unter dessen Ärmel sich seine kräftigen Arme abzeichnen. Seine schwarzen Locken sind durcheinander gewuschelt und auf seiner Wange ist ein schwarzer Erdfleck, eigentlich ganz süß. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie die Brünette Luca in unsere Richtung zieht. „Wie heißt du?“, frage ich den Verkäufer. 

„Ich bin Tim“, antwortet er offensichtlich verwirrt über meine neue Feilsch-Taktik. „Bitte, Tim, bitte“, flehe ich ihn an, „Kannst du mitspielen? Frag nicht, ok?!“ „Waaas?“, stottert mein Gegenüber. „Hallo Laura, darf ich dir, Isabell vorstellen?“, ich bin erstaunt, wie lässig Luca klingt. „Sie ist gerade über Weihnachten aus Amerika gekommen.“ Isabell ist Lucas Ex-Freundin, fällt es mir ein. Ex-Freundin?! Mir schweben mehrere Antwortmöglichkeiten im Kopf, wie „Ach ja, du hast mir gar nicht gesagt, dass du Isabell zu Weihnachten eingeladen hast!“ oder „Das ist aber nett von Isabell, dass sie von so weit angereist ist, um uns bei der Auswahl des Weihnachtsbaumes zu helfen.“ Am liebsten würde ich ihm entgegenschleudern: „Zum Glück hast du den grässlichen Schal an Isabell verschenkt!“ Stattdessen stehe nur da, zu einer Eissäule erstarrt, halte mich an dem hässlichen Baum fest und bin nicht imstande etwas zu sagen, außer „Hi“. 

 

Dann spüre ich plötzlich einen starken Arm, der sich über meine Schulter legt und eine Hand, die meine Hand am Baumstamm umfasst. „Du hast recht“, sagt Tim, „Er ist nicht perfekt, aber er passt zu uns, Laura. Den sollten wir nehmen.“ 

Und ganz allmählich spüre ich, wie seine Schulter mir Halt gibt und seine Wärme meine Eisstarre durchbricht. Ich lasse den Baumstamm los und drehe mich zu Tim um. Er lächelt mich schelmisch an und ich muss zurücklächeln. „Danke“, forme ich lautlos mit den Lippen. Er lässt den Baum ebenfalls los. Seine kräftigen Arme schließen sich behutsam um mich. In meinem Inneren wird es warm und ich kann nicht anders, als seine Umarmung zu erwidern. Seine Jacke riecht nach Tannenharz und Zimt. Ich schließe die Augen und würde am liebsten den Rest des Tages diesen Duft einatmen und seinem Herzschlag lauschen. Trotzdem löse ich mich von ihm und drehe mich zu Luca um. Isabell lächelt selig, während Luca nun zu einer Eissäule erstarrt. „Hi, Isabell, viel von dir gehört“, sage ich lässig und dann an Luca gewandt „Und habt ihr schon euren Baum?“ 

 

Ich begleite Tim bis zum Ausgang, wo sich die Kasse befindet. Eigentlich will ich jetzt keinen Weihnachtsbaum mehr, aber wenigstens das schulde ich Tim. „25 %-Rabatt?“, frage ich und lächele. „25 % und deine Telefonnummer“, antwortet Tim. Der nächste Kunde wird ungeduldig, und Tim hebt entschuldigend die Schultern. Ich schleppe lustlos den Tannenbaum hinter mir zu meinem Wagen.

Während ich an der roten Ampel stehe, bimmelt mein Handy. Zwei Nachrichten. Die Erste ist von Luca: „Hallo Laura, können wir bitte in Ruhe wie Erwachsene alles am 26. besprechen?“ Und die Zweite von einer unbekannten Nummer: „Hi, hier ist Tim. Und? Ist der Baum gut zu Hause angekommen?“ 

Ich drehe mich um und erst dann fällt mir auf, dass ich den Baum am Parkplatz stehen gelassen habe. Befreie dich von überflüssigem Ballast, fällt mir der Spruch von heute Morgen ein. Ich lächle. Als die Ampel grün wird, wende ich den Wagen, um den Baum zu holen. 


 

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